Cardillo

Tiefenarchitektur

Zürich,

Seminar Tiefenarchitektur – Die ästhetische Natur der Psyche, Teil der Weiterbildungen in Analytischer Psychologie am C.G. Jung-Institut Zürich. Über ein Vorspiel und drei Abschnitte hinweg untersucht das Seminar die implizite Forderung der Analytischen Psychologie nach einer vorverbalen Dimension und verortet sie im sensoriellen und sinnlichen Register einer symbolischen Architektur. Hier bedeutet Ambivalenz eine Emanzipation von den disjunktiven Polaritäten der Sprache und eröffnet den Weg zu einer Geschichtlichkeit der Seele sowie zur Schönheit als sinnliche Epiphanie der Psyche. Die Stimmen von Jung, Corbin und Hillman vereinen sich, um die Psyche nicht als entkörperlichte Doktrin, sondern als lebendiges Bild zu zeigen – eingewoben in die Geschichte und in Form gebracht

Den Toten zuhören

Architektur ist für die Toten gemacht. Ihre Existenz ist ein Rätsel. Sie wird selten von jenen bewohnt, die sie in Auftrag geben. Oft sind die Zwecke, die ihren Bau bestimmen, bescheiden, und ihre Zukunft in der Welt der Dinge ist stets ein Geschehen. Auftraggeber, Orte und Gesetze sind die Umstände, mit denen der Eidos spricht oder ringt, um in das Bild der Welt einzutreten. Doch vor allem ist Architektur der Ort, an dem die Toten zu den Lebenden sprechen. Jung schreibt im Das Rote Buch:

Es gibt ein notwendiges, aber verborgenes und einzigartiges Werk, ein Meisterwerk, das du im Geheimen vollbringen musst – um der Toten willen. […] Blicke nicht zu weit voraus; blicke vielmehr zurück und in dich hinein, damit du das Hören auf die Toten nicht versäumst.

Kurz vor seinem Tod vertraute mir Paolo Portoghesi an, dass er in den 1960er-Jahren gemeinsam mit seinem damaligen engen Freund Bruno Zevi dem italienischen Nationalen Forschungsrat (CNR) ein Projekt für ein nationales Forschungsprogramm vorgelegt hatte, das eine Integration akademischer Studien in Architektur und Psychologie vorsah. Dieses Projekt sollte auf der Tiefenpsychologie gründen und, so seine Worte, einen „hohen Ton“ haben – fähig, die Anerkennung einer Verbindung zweier Kräfte zu verkörpern: Architektur und Psychologie. „Die Arbeit, die Zevi und ich hätten leisten können, wäre gewesen, ihr diesen jungianischen Stempel zu geben – sagte Portoghesi –, denn es ist Jung, der den eigentlichen Anstoß gegeben hat.“ Der CNR lehnte den Vorschlag ab. Wenige Jahre später kam es zu einem heftigen Zerwürfnis zwischen Portoghesi und Zevi, das die architektonische Debatte ihrer Zeit in die reduktive Gegenüberstellung von modern und postmodern polarisierte. Laut Nietzsche ist die Geschichte der Tatsachen ein „schrecklicher Fall“; laut Lessing ist Geschichte „die Sinngebung des Sinnlosen“.

Dieses kurze Vorspiel möchte daher den „Gedanken des Herzens“ unseres Seminars einführen. Unser Symposium wird sich in drei Gesprächsbewegungen gliedern:

Jede dieser Bewegungen wird durch kurze Reflexionen begleitet, die die Momente eines imaginierten Gartens bilden – als Versuch, jenem unterbrochenen Wunsch zwischen Portoghesi und Zevi eine Fortsetzung zu geben.

Das Reich der ambivalenten Dämmerung

1913 – 1967

Dieser Abschnitt versammelt Zitate von Jung (1913–1930, 1916) und Hillman (1967), in denen Dunkelheit, Ambivalenz und die staubige Dämmerwelt als Schwellen psychischer Erfahrung erscheinen. Das Erfassen der Dunkelheit ergreift die Seele, während der Akt des Benennens – die Sprache selbst – Polarität einführt und das trennt, was im Vorverbalen noch eins war. Der Prozess des Bewusstwerdens erzeugt zugleich Unbewusstes, und Ambivalenz erscheint als jene notwendige Atmosphäre, in der die Psyche atmet

Die Dunkelheit begreifen

Wenn du die Dunkelheit begreifst, überfällt sie dich. Sie kommt über dich wie die Nacht […]. Und du bereitest dich vor, durch die Jahrtausende zu schlafen […], und deine Wände erschallen mit alten Tempelgesängen.

(Jung, 1913–1930)

Macht den Dingen verleihen

Diese Toten haben allen Wesen Namen gegeben […] aber gerade dadurch gaben sie den Dingen unbewußt Macht.

(Jung, 1916)

Bewußtes schafft Unbewußtes

Illumining with the candle of our ego a bright circle of awareness, we also darken the remainder of the room. […] The process of making conscious thereby also makes unconscious.

(Hillman, 1967)

Die staubige Welt

Ambivalence is […] the necessary concomitant to the ambiguity of psychic wholeness whose light is in a twilight state. […] The way is slower […]: “Soften the light, become one with the dusty world [Lao Tzu].”

(Hillman, 1967)

Die Geschichtlichkeit der Seele und Faktizität

1913 – 1981

Dieser Abschnitt versammelt Zitate von Jung (1913–1930, 1922), Corbin (1965) und Hillman (1967, 1981). Die Geschichtlichkeit der Seele offenbart sich durch Versuchung als Forderung der Toten, durch die tausend Stimmen urbildlicher Imaginationen und durch die Erzählung als Zeugnis der Ereignisse selbst, unterschieden vom konfessionellen Modus. Geschichte ist nicht bloß Tatsache, sondern Erzählung, gewoben von der Seele, wobei das Handeln in der phänomenalen Welt die Lebenden mit der geistigen Gemeinschaft der Toten verbindet. Faktizität wird durch die Fähigkeit der Seele, Sinn zu verleihen, belebt

Versuchung

Was wir Versuchung nennen, ist die Forderung der Toten, die früh und unvollendet gestorben sind durch die Schuld des Guten und des Gesetzes. Denn kein Gut ist so vollkommen, daß es nicht Unrecht tun und brechen könnte, was nicht gebrochen werden darf.

(Jung, 1913–1930)

Eine Stimme, stärker als unsere

Wer mit Urbildern spricht, spricht wie mit tausend Stimmen, er ergreift und überwältigt, zugleich erhebt er das, was er bezeichnet, aus dem Einmaligen und Vergänglichen in die Sphäre des immer Seienden […].

(Jung, 1922)

Handeln in der phänomenalen Welt

L’homme, durant toute sa vie terrestre, agit ainsi sur […] toute la région du monde spirituel constituée par la fraction de l’humanité qui, de siècle en siècle, est momentanément engagée dans les corps physiques du monde phénoménal.

(Corbin, 1965)

Geschichte ist zuerst Erzählung

Without the sense of soul, we have no sense of history. […] This core of soul that weaves events together into the meaningful patterns of tales and stories recounted by reminiscing creates history.

(Hillman, 1967)

Erfahrung als Erzählung

The récit [Erzählung] is an account of events experienced rather than of my experiencing. […] The colors and shapes of the things illumined, their faces, are the confession—it is their coming to light, their testament, and their individuation.

(Hillman, 1981)

Schönheit als sinnliche Epiphanie der Psyche

1911 – 1981

Dieser Abschnitt versammelt Zitate von Jung (1911–1952), Corbin (1965, 1974) und Hillman (1981). Schönheit erscheint als sinnliche Epiphanie der Psyche: Symbole, die in der Sexualität wurzeln, Form als Aufgabe des Geistes und der mundus imaginalis als Begegnungsort zweier Meere. Hillmans Gedanke des Herzens betont, dass Wahrnehmung imaginieren muss, während Aisthesis als Staunen die Materie verklärt. Gemeinsam legen diese Stimmen nahe, dass Schönheit kein Ornament ist – sondern jener Akt, durch den sich die Psyche in der Welt offenbart und verkörpert

Symbol und Sexualität

Es ist darum unvermeidlich, daß wir uns mit einem der stärksten Triebe, nämlich der Sexualität, auseinanderzusetzen haben, indem wohl die meisten Symbole mehr oder weniger Analogien dieses Triebes darstellen.

(Jung, 1911–1952)

Form als Aufgabe des Geistes

Parler de la […] forme comme tâche à réaliser par l’Esprit […], cela ne peut avoir son sens plénier qu’à la condition que nous disposions d’un espace où projeter la totalité de cette forme.

(Corbin, 1965)

Mundus imaginalis

C’est pour lui le confluent du monde des Idées pures en leur substantialité intelligible et du monde des objets de la perception sensible. […] Bref, c’est au « confluent des deux mers » que se présente au visionnaire l’Imago Templi.

(Corbin, 1974)

Wahrnehmen muß imaginieren

The thought of the heart is physiognomic. To perceive, it must imagine. It must see shapes, forms, faces—angels, demons, creatures of every sort in things of any kind; thereby the heart’s thought personifies, ensouls, and animates the world.

(Hillman, 1981)

Aisthesis: durch Staunen

That is, the activity of perception or sensation in Greek is aisthesis, which means at root “taking in” and “breathing in”—[…] The transfiguration of matter occurs through wonder.

(Hillman, 1981)

Literatur

  • , Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie [1911–1952], Gesammelte Werke, Bd. 5, Walter-Verlag, Olten, 1952.
  • , Das Rote Buch: Liber Novus [1913–1930], hrsg. von Sonu Shamdasani, W. W. Norton & Co., New York, 2009.
  • , Die sieben Reden an die Toten Privatdruck, Zürich, 1916, in Das Rote Buch: Liber Novus [1913–1930], hrsg. von Sonu Shamdasani, W. W. Norton & Co., New York, 2009.
  • , „Über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk“ [1922], in Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft, Gesammelte Werke, Bd. 15, Walter-Verlag, Olten, 1971.
  • , „La configuration du temple de la Ka‘ba comme secret de la vie spirituelle“, in Eranos-Jahrbuch XXXIV, 1965 (Thema: Form als Aufgabe des Geistes), Rhein-Verlag, Zürich, 1966.
  • , „Senex and Puer: An Aspect of the Historical and Psychological Present“, in Eranos-Jahrbuch XXXVI, 1967 (Thema: Polarität des Lebens), Rhein-Verlag, Zürich, 1968.
  • , „L’Imago Templi face aux normes profanes“, in Eranos-Jahrbuch XLIII, 1974 (Thema: Normen im Wandel der Zeit), Leiden, E. J. Brill, 1977.
  • , „The Thought of the Heart“, in Eranos-Jahrbuch XLVIII, 1979 (Thema: Denken und mythische Bildwelt), Insel Verlag, Frankfurt a.M., 1981.

Quelle

  • , „Depth architecture—The aesthetic nature of the psyche“, Vortrag im Rahmen der Weiterbildungen in Analytischer Psychologie, C.G. Jung-Institut, Zürich, 31. Okt. 2025; Abschrift veröffentlicht auf , 31. Okt. 2025.