Cardillo

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Eigenfarbe und Materialfarbe

Berlin‑Boston, 1. Dezember 2018


Cardillos Haus des Staubes und Specus Corallii projiziert einen Teil des Kapitels „Inhärente Farbe und Materialfarbe“ des Buches Farbe Räumlich Denken, das sich sowohl auf die greifbaren Aspekte und Designkriterien der Farbe als auch auf ihre unbestimmte Natur und ihren Erfahrungswert konzentriert




Farbe Räumlich Denken Birkhäuser



Verfremdung des Materials


Das unbehandelte, natürliche und reine Material steht im Gegensatz zum beispielsweise durch Farbe bewusst verfremdeten Material. Glatt oder rau, glänzend oder matt, dicht oder porig, schillernd oder einfach kann eine Oberfläche derart manipuliert wirken, dass das Gesamtbild ausschließlich durch Farbe definiert wird. Es ist primär eine Frage der Strategie, an welchem Ort Farbe Anwendung findet, welcher Farbträger gewählt wird und in welcher Form und Funktion sie eingesetzt werden soll. Anders als noch in der Moderne, gibt es heute keine Farbtheorie mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit mehr. Farbe kann als Material fungieren, und Material kann eine bestimmte Farbigkeit erzeugen. Wird die Farbe bewusst in einen neuen Farb- und Materialzusammenhang gesetzt, so kann sie unerwartete, neue Wirkungsebenen aufzeigen. [...]

Antonino Cardillo, Specus Corallii, Cattedrale di Trapani, 2016, in Farbe Räumlich Denken: Positionen, Projekte, Potenziale, 2018, S. 314–315.

Antonino Cardillo, Specus Corallii [Bild des Eröffnungskapitels], Trapani, 2016, in „Eigenfarbe und Materialfarbe“, Farbe Räumlich Denken: Positionen, Projekte, Potenziale, 2018, S. 314‑315.



Das Projekt „Haus aus Staub“ in Rom von Antonino Cardillo arbeitet mit wenigen, aber wirkungsvollen Materialinterventionen an der Grenze zwischen Realität und Fiktion. In einer Wohnung aus den 1960er-Jahren wurden unterschiedlich farbige und texturierte Oberflächen in starken Kontrast zueinander gesetzt, wodurch gleiche Farbtöne vollkommen ver- schieden inszeniert werden. Es entstehen teilweise kräftige Farbwelten, die im Zusammenklang mit Licht und Schatten unterschiedliche Atmo- sphären ergeben. Das Aufbringen von grobem, erdfarbenem Putz – der sogenannten Staubschicht – bis zu der Höhe eines künstlichen Horizon- tes, an den auch alle Fenster und Durchgänge anschließen, erzeugte eine höhlenartige Anmutung. Der von Hand mit der Kelle aufgetragene grobe Putz, der nachträglich gefärbt wurde, sowie der polierte Zementputz prä- gen den Hauptraum. Ein Wechsel in der Farbigkeit – von Graubraun zu einem Rosé-Farbton – trennt den öffentlichen und den privaten Bereich der Wohnung. Die Verfremdung des Materials über die Mittel Farbe und Struktur überrascht und erzeugt zugleich ein Gefühl von Geborgenheit. Je nach Lichtsituation ändert sich die Stimmung in den Räumen. Daran wird deutlich, wie relativ Farbempfinden ist.

Antonino Cardillo, Haus aus Staub, Rom, 2013. Fotografie: Antonino Cardillo

Antonino Cardillo, Haus aus Staub, Rom, 2013. Fotografie: Antonino Cardillo





Referenz

  • Kerstin Schultz, Hedwig Wiedemann-Tokarz, Eva Maria Herrmann, ‘Eigenfarbe und Materialfarbe’,[↗] in Farbe Räumlich Denken: Positionen, Projekte, Potenziale, Birkhäuser, Berlin‑Boston, Dez. 2018, S. 314‑315, 342‑343.