Kritik
Jeanette Kunsmann
Licht und Schatten, Stein und Staub, aber vor allem: Symmetrie. Antonino Cardillo ist ein Architekt der klassischen Schule, seine Räume suchen nach ähnlich großen Gefühlen, wie Richard Wagner sie in seinen Opern komponierte. Auf das Haus aus Staub und die „Grünliche Götterdämmerung“, einem Galerieumbau in Rom, folgt diesen Sommer Specus Corallii: eine „Korallenhöhle“ in Trapani auf Sizilien, der Heimat Cardillos.
Dass sich seine Räume immer wieder vor der Welt verschließen, lässt sich verschieden deuten. Vielleicht hat Antonino Cardillo einfach einen Hang zur Höhle: Mit seinen introvertierten Räumen, die ihre eigene Realität einer Zuflucht entfalten, möchte der Architekt Geschichten erzählen. Und wenn die zeitgenössische Architektur vorwiegend aus soliden Betonwänden besteht, oder sich mit Glasfassaden zur Stadt öffnet, prägt Cardillo mit Symmetrie, Stuck und Struktur vor allem seine persönliche Handschrift in Räume. Wie bei beiden Vorgängerprojekten in Rom spielt auch beim Umbau in Trapani der umlaufende Horizont eine entscheidende Rolle: Er teilt den Raum in Oben und Unten und verleiht ihm so seine zentrale Achse. Symmetrie braucht aber auch Kontraste: Im Flur, einem langen mit Rundbögen besetzten Wandelgang, dominiert also die Vertikale.
Erde, Wasser, Luft und Feuer
Als Cardillo 2013 das Haus aus Staub realisierte, bezog er sich auf eins von vier klassischen Elementen der Antike: Erde. Als zweites folgte der Urstoff Wasser: Für Crepuscular Green, den Umbau einer Kunstgalerie im römischen Viertel San Lorenzo, orientierte er sich an Wagners Ring der Nibelungen und schuf einen Raum, der sich an die „grünlich-höhlenartigen Vertiefungen im Rhein – Heimat der ursprünglichen Schönheit und der Ort, wo die Liebe verflucht wurde“ anlehnt. Für das Element Luft reiste Cardillo nach London und baute dort im Apr. 2015 die Rauminstallation Colour as a Narrative.
Specus Corallii hat Antonino Cardillo sein jüngstes Projekt getauft, mit dem er einen Zyklus fortsetzt – vielleicht sogar abschließt. Auf das Feuer soll sich der Entwurf für das Oratorium beziehen: mit warmen, sinnlichen Wänden aus korallenfarbigen Steinplatten in der unteren Hälfte und dem darüber angebrachten rosagrauen Putz. Die Holztüren sind aus Kastanie. Antonino Cardillo spricht von Liebe – ein weiteres großes Thema der griechischen Mythologie.
Kammermusik
Die Verarbeitung von Korallen zu Schmuck brachten übrigens weder Griechen noch Römer nach Trapani, sondern die Araber. Galt die Stadt im Nordwesten Siziliens im Mittelalter als wichtigste Hafenstadt der Insel – neben Korallen waren Salzgewinnung, Fischerei und Weinanbau starke Wirtschaftszweige – regiert in Trapani heute der Tourismus. Beliebtes Ziel ist dabei die Kathedrale San Lorenzo Martire, ein Gebäude aus dem 17. Jahrhundert mit einer frühbarocken Fassade. Das dazu gehörende, verfallene Oratorium (Sala Laurentina) ließ Vikar Gaspare Gruppuso Ende 2015 sanieren und zu einem Ort für Kammermusik und kleinere Veranstaltungen umbauen. Für Antonino Cardillo stellte dieser 120.000-Euro-Auftrag für die Kathedrale von Trapani nicht nur das vierte Projekt seiner Elemente-Serie dar, er wurde auch das erste Heimspiel – schließlich stammt der 41-jährige Architekt aus der Nachbargemeinde Erice.
Wenn Räume Geschichten erzählen
Cardillo rekonstruierte den 5,39 Meter hohen Sala Laurentina wie einen Roman, der sich auf die Gründungsmythen der Stadt Trapani bezieht. Die sakrale Bedeutung der Korallenhöhle liegt für Cardillo in den Tiefen des Meeres. Die „Kadenz des Raumes“ soll laut dem Architekten von den „Allegorien der Schönheit und der Metamorphose“ erzählen, die auf die Muschelabdrücke in versteinerten Sedimenten und den willkürlichen Unebenheiten der Korallenriffe anspielt. Muschelschalen und Korallen bestimmen ebenfalls das Stadtbild von Trapani. Antonino Cardillo arbeitet deswegen hauptsächlich mit den Oberflächen und lässt den Bestand formal unberührt. Die Decke und der obere Wandabschnitt sorgen durch ihr verputztes Relief für eine gute Akustik, während der untere Bereich der Wände mit großformatigen, rauen Kalksteinplatten verkleidet wurde. Dieselben Platten ließ Cardillo polieren und auf dem Boden auslegen.
Bezieht sich das Oratorium mit seiner warmen Farbpalette auf die Korallenriffe vor Sizilien, bekommt der lange Gang eine andere Dramatik. Der Putz in kühlen Grün- und dunklen Grautönen bildet hier auch farblich einen konsequenten Kontrast – eine Kombination von polierten und mattgrünen Terrazzofliesen bedeckt den Flurboden. Antonino Cardillo beherrscht die Kunst, durch Räume und Materialien Geschichten zu erzählen: Die Besucher verschwinden in einem geheimnisvollen Durchgang, der die verborgenen Welten Unterwasser beschwört. Gleichzeitig handelt es sich um vertraute Bilder und bekannte Formen. Die Welt bleibt ein Labyrinth aus Erinnerungen, der Architekt ist ein Zeitreisender – und Architektur wird zum Rausch.
Antonino Cardillo, Specus Corallii, Cattedrale di Trapani, 2016. Fotografie: Antonino Cardillo